Der Bettler zu Mespelbrunn
Mespelbrunn im Spessart ist rings von dichten Forsten umgeben, die reich mit Wild bevölkert waren. Was Wunder, wenn die Burgherren Freunde des edlen Weidwerkes waren!
Der Sankt-Ottilien-Tag hatte prächtiges Jagdwetter gebracht. Das trübe Gewölk, das wochenlang am Himmel gehangen hatte, hatte frischen Schnee in den Forst gelegt, so daß man die Fährte des Wildes nicht verfehlen konnte. Ein leichter Wind kühlte die Brust des Jägers, und hell strahlte die Sonne am Himmel. Der Schnee funkelte, wie mit Diamantsteinen besät. Im Burghof zu Mespebrunn war alles zur Jagd bereit. Das Roß des Ritters stand gesattelt, hier ungeduldig in den Boden und blies zwei Dampfsäulen aus den Nüstern. Die Bracken zogen kläffend an den Riemen, und die Hörner der Jäger riefen wiederholt den Herrn, der heute länger als gewöhnlich verweilte. Endlich kam er aus dem Schloß und setzte den Fuß in dne Bügel, um das Roß zu besteigen.
Da erschien ein alter Bettler und bat um eine Gabe.
"Komm ein anderes Mal", sprach der Ritter. "du siehst, daß es mir jetzt an Zeit gebricht."
"Herr", sprach der Bettler, "der kleine Aufschub ist bald eingebracht; ich habe keinen Bissen Brot und bin sehr hungrig."
"Hungrig?" rief der Ritter, der eben einen guten Imbiß zu sich genommen hatte. "und es ist kaum die Sonne aufgegangen! Will denn das Bettelvolk vom frühen Morgen bis in die späte Nacht essen?"
"Herr", sagte der Bettler demütig, "ich habe auch gestern nichts gegessen."
"Laß mich mit deinen Märlein", zürnte der Ritter und schwang sich auf sein Roß, "laß mich und gib Raum, sonst zermalmt dich meines Rappen Huf."
Und jetzt bliesen die Jäger ein lustiges Stücklein. Das wilde Jagdroß war nicht mehr zu halten, und unter Rüdengebell, unter Hörnerschall und Peitschenknall brauste die wilde Jagd zum Burgtor hinaus in den Wald, daß der Bettler nur wie durch ein Wunder unverletzt davonkam.
Die Jagd war ergiebig; aber mit dem Jagdglück wuchs die Jagdlust, und so wurde fortgejagt, bis de Sonne hinter den Bergen hinabstieg. Die Weidmänner hatten den ganzen Tag keinen Bissen gegessen und keinen Tropfen getrunken. Solange sie gejagt hatten, hatten sie alles vergessen. Als sie sich aber bei einbrechender Dunkelheit um ihren Herrn sammelten und dessen Befehl zur Heimkehr erwarteten, meldeten sich ungestüm zwei unangenehme Gäste, der Hunger und der Durst. Da zog ein stolzer Sechzehnender unfern von ihnen vorüber. Kaum erblickte ihn der Ritter, so sprengte er ihm nach, obwohl der erfahrene Jäger nicht auf die Hirschjagd ausgezogen war. Die Leute des Ritters blieben zurück; denn sie konnten voraussehen, daß er mit seinen ermüdeten Rappen bald die unnütze Verfolgung des Hirsches aufgeben werde. Aber der Ritter kehrte nicht zurück. Er folgte dem Hirsch, der gar keine Eile zu haben schien, immer weiter. Auf einmal verschwand der Hirsch, und im selben Augenblick rissen alle Riemen am Zaum und Sattelzeug des Ritters zusammen, als ob sie Zunder wären. Er mußte sich schnell vom Pferde werfen, um nicht herabgeschleudert zu werden.
Da stand der Ritter ratlos. Das wilde Roß war ohne Sattel und Zaum gar nicht zu reiten, und Mespelbrunn sowie jede menschliche Wohnung lagen zu fern, um sie bald zu Fuß zu erreichen. Zudem eilte die schmale Mondsichel dem Untergang zu, und dann war es im Schatten der hohen Buchen zu dunkel, um mit Sicherheit den Pfad finden zu können. Im Wald zu übernachten war zu kalt, und den Ritter quälten nunmehr Hunger und Durst nicht minder als seine Jagdgenossen.
Während der Ritter sein Mißgeschick verwünschte, erschien der Bettler, der am Morgen im Mespelbrunn gewesen war. Stillschweigend nahm er seine Halsbinde ab, zerriß sie in schmale Streifen und befestigte damit –gleich starken Riemen – Sattel und Zaumzeug des Rosses, das sonst kaum zu bändigen war, aber jetzt wie ein Lamm still hielt. In sprachlosem Staunen hatte der Ritter ihm zugeschaut. Erst als der Bettler ihm den Zügel in die Hand gab und ihm auf das Roß verhalf, fand er die Frage: "Wer bist du?" Aber der Bettler beantwortete sie nicht, sondern sprach in gleich demütigen Ton wie am Morgen: "Herr, Ihr habt nun gefühlt, wie’s einem Mann zumute ist, in dessen Eingeweide der Hunger wühlt. Ihr werdet wohl keinen hungrigen Bettler mehr fortjagen!" Er sprach’s und war verschwunden.
Mit Schamröte auf den Wangen ritt der Ritter seines Weges und gelangte bald wieder in seine Burg. Er schickte nie wieder einen Bettler ohne eine Gabe von der Tür weg.
Aus "Der Goldbrunnen" Sammlung alter Sagen und sagenhafter Erzählungen