Der Hammel und der Wolf
Einst weidete ein Hammel in einem Wiesengrund. Kam ein Wolf daher. "He Hammel, die Wiese gehört mir, weißt du das nicht?" rief er. "Warum weidest du auf meinem Land?"
"Nein, die Wiese gehört mir", antwortete der Hammel. "Noch nie ist mir hier jemand in die Quere gekommen. Du brauchst die Schlucht gar nicht, also kann sie dir nicht gehören. Troll dich, Freund Wolf!"
"Ich habe sie von meinen Vätern und Großvätern geerbt. Ich bin hier der Herr", beharrte der Wolf, "und ich werde einen Zeugen finden. Hast aber du, mein lieber Hammel, einen Zeugen?"
"Und ob ich einen habe. Viele wissen, daß die Wiese mir gehört", entgegnete der Hammel.
Damit trennten sie sich.
Der Wolf ging zum Fuchs und sagte: "Du, Füchslein, ich habe für uns beide eine fette Beute. Frag nicht viel, komm mit."
"Was für eine Beute, Freund Wolf?" fragte das Füchslein.
Und der Wolf erzählte: "Im Wiesengrund weidet ein fetter Hammel, ich hab mich mit ihm in die Wolle gekriegt. Morgen gehen wir beide hin, bringen das Land in unseren Besitz und fressen den Hammel!"
"Fein, so machen wir’s, Freund Wolf", stimmte das Füchslein bei.
Der Hammel aber ging ins Dorf, erblickte vor einem Haus einen schwarzen Hund und sprach zu ihm: "Heute habe ich im Wiesengrund geweidet. Da kam der Wolf und sagte: ‚ ich habe die Wiese von meinen Vätern und Großvätern geerbt. Ich, der Wolf, bin hier der Herr. Warum weidest du auf meinem Land?‘ Und ich habe ihm geantwortet: ‚Die Wiese gehört mir. Noch nie ist mir hier jemand in die Quere gekommen. Troll dich, Freund Wolf!‘ Darauf sagte der Wolf: ‚Ich werde einen Zeugen bringen. Aber du, hast du einen Zeugen, lieber Hammel?‘ Da heb ich ihm geantwortet: ‚Und ob ich einen habe! Viele wissen, daß die Wiese mir gehört.‘ Oh lieber Hund, wenn du mein Freund bist, so hilf mir in meiner Not!"
"Sei nicht traurig, lieber Hammel! Wir finden schon einen Ausweg", sagte der Hund tröstend.
Am folgenden Tag begaben sich der Hund und der Hammel zum Wiesengrund. Vom Wolf war noch keine Spur. Da sprach der Hund: "Höre, Hammel, ich lege mich hier hin, und du bewirfst mich mit Kamelmist, damit mich der Wolf und sein Zeuge nicht sehen."
Gesagt, getan. Und siehe da, vom Berg herab nahte der Wolf und hinterdrein das Füchslein. Das also war sein Zeuge.
"Siehst du", sagte der Wolf zum Fuchs, "das werden wir gleich haben. Der Hammel trottet allein umher. Konnte keinen einzigen Zeugen auftreiben. Erst verdrängen wir ihn von der Wiese, dann fressen wir ihn!"
Das Füchslein lief zum Hammel und rief: "He, Hammel, was hast du hier zu suchen?"
"Weißt etwa du, wem dieser Platz gehört?" entgegnet der Hammel.
"Das wissen wir sehr wohl", sagte das Füchslein. "Keinem anderen als dem Wolf. So ist es und überliefert."
"Na, mein lieber Hammel, und wo ist dein Zeuge?" fragte der Wolf. "Ich sehe keinen."
"O Freund, ich brauche keinen Zeugen", antwortete der Hammel. "Aber wenn du die Wahrheit sprichst, springe über dieses Häuflein Mist, hin und wieder zurück. Danach möge dir die Wiese ruhig gehören!"
"Na, was ist schon dabei, eine Leichtigkeit", sagte das Füchslein.
Es nahm Anlauf, setzte zum Sprung an, aber da bemerkte es die Schnauze des Hundes und prallte zurück. "Nein, ich bin kein Lügner, Meineid ist meine Sache nicht!" rief das Füchslein erschrocken und lief davon.
Da setzte der Wolf zum Sprung an, der Hund aber packte ihn bei der Gurgel.
"Oh, Freund Wolf, der Meineid ist dein Verderben!" schrie das Füchslein, sich im Laufen noch einmal umwendend.
Der Hund tötete den Wolf und kehrte mit dem Hammel ins Dorf zurück. So haben sie den Wiesengrund behauptet.
Aus "Der Schlangenschatz" Turkmenische Märchen