Ritter Sankt Georg und das Hufeisen an der Nikolaikirche zu Leipzig
Dort wo Pleiße und Parthe zusammenfließen, lag einst im dunklen Hain schattiger Linden ein Schloß. Dort wohnte ein hochbejahrter König mit seiner einzigen Tochter. Alles, was man von der Burg aus sehen konnte, war sein eigen. Zu Füßen des Hügels, auf dem sie sich erhob, lag ein schmuckes Dörfchen, dessen Bürger friedlich den Acker bestellten. Aber ihr Glück wurde gestört. Ein greulicher Lindwurm beunruhigte seit einiger Zeit die Umgebung. Tagtäglich erzählte man sich neue Schauergeschichten darüber, welche Opfer an Menschen und Tieren der furchtbare Drache gefordert hatte.
Wohl zog der alte König mit seinen Mannen gegen ihn in den kampf. Aber so sehr sie sich auch anstrengten, den Eindringling zu überwinden, so war doch alle Tapferkeit vergebens. Ihre Wurfspieße prallten an dem schuppigen Panzer des Untiers ab, und mancher mußte das kühne Wagnis mit dem Leben bezahlen. Bekümmert zog der König heim, und die Klagen über neue Untaten des Lindwurms mehrten sich von Tag zu Tag.
Um die Dorfbewohner vor ihm zu schützen, opferte man täglich zwei Schafe. Siehe, da waren nach und nach alle Ställe geleert. Auch Rosse und Rinder reichten nicht lange, die Unersättlichkeit des Untiers zu befriedigen. "So mögen auch Menschen ihm geopfert werden!" rief der König aus. Und jedermann mußte losen, reich und arm, alt und jung, Männer und Frauen, und die Not und der Jammer nahmen kein Ende. Da traf eines Tages das Los auch die Königstochter.
Schon wollte man sie, die dem Tode still und ergeben ins Auge sah, dem Drachen entgegenführen. Da nahte hoch zu Roß ein schöner Jüngling in silbernen Harnisch und kostbaren Waffenschmuck. Es war der Ritter Sankt Georg. Als er den Zug erblickte, der sich zum Dörfchen hinausbewegte, ahnte er nichts Gutes. Bald hatte man ihm von der Not erzählt, die alle bedrückte, von dem schrecklichen Feind, der seit Jahr und Tag die Bewohner beunruhigte. Das entfachte seinen Kampfesmut. Er bat den schmerzerfüllten Vater, zur Rettung der Tochter den Kampf aufnehmen zu dürfen, und machte sich auf die Suche. Schon brach der Drache aus dem Sumpf hervor, um seine Beute zu holen. Als er sich aufbäumte, um seinen Gegner zu vernichten, stieß ihm Ritter seine Lanze in die Seite. Wohl hatte er gut in den weichen Bauch des Untiers getroffen, aber das Leben hatte er ihm noch nicht geraubt. Vor Schmerzen brüllend, wälzte es sich, mit seinem furchtbaren Schweif um sich schlagend, dem Dörfchen zu. Georg sprengte hinter ihm her, um ihm den Todesstreich zu versetzen. Da versagte plötzlich sein Roß seine weiteren Dienste; denn es hatte ein Hufeisen verloren und blutete am Hufe. Verzweifelt gab ihm der Ritter die Sporen, und es gelang ihm, den Drachen wieder nahe zu kommen. Rasch sprang er von seinem Roß herab und schlitzte mit seinem Schwert dem Ungeheuer den Leib auf, so daß es verendete. Alles Volk jauchzte laut vor Freude.
Der glückliche König versprach dem jungen Helden die Erfüllung jeder Bitte, auch wenn es sich um seine Krone handeln sollte. Der tapfere Ritter aber bat um nichts, als daß man einen Schmied kommen lasse, der seinem Pferd ein neues Eisen aufnageln möge. Nach Erfüllung dieses Wunsches ritt er von dannen.
Der König ließ zum dauernden Andenken das Hufeisen, das des Rittes Roß verloren hatte, an einer Linde aufhängen, als diese bei Erbauung der Stadt Leipzig gefällt wurde, mauerte man es in die Wand der Nikolaikirche ein. Das Bild des mit dem Lindwurm kämpfenden Ritters aber zierte lange Zeit das Portal des ehemaligen Georgenhauses am östlichen Ende des Brühls.
Aus "Der Goldbrunnen", Sammlung alter Sagen und sagenhafter Erzählungen